Ernährung, Gesundheit und soziale Ordnung
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Zielsetzung

Das Forschungsvorhaben hat zum Ziel, die Bedeutung von Ernährung und Gesundheit für die Ordnung moderner Gesellschaften vom 19. Jh. bis zur Gegenwart herauszuarbeiten. Der empirische Fokus liegt auf den USA und Deutschland, so dass regionale Differenzen aber auch Verflechtungsdynamiken in sich globalisierenden Konstellationen deutlich werden. Durch die Verbindung gesundheitswissenschaftlicher, soziologischer, kultur- und geschichtswissenschaftlicher Analysen lässt sich zeigen, wie Gesundheit als regulierendes Ideal in das Zentrum einer Gesellschaft gerückt ist, die auf Leistungsfähigkeit und Fitness ausgerichtet ist und die dabei das ‚erfolgreiche Selbst’ zum Maßstab macht. Der Forschungsverbund versteht diese Zusammenhänge als Teil von „Biopolitik“ (Foucault), die sich historisch und gesellschaftlich, kulturell und handlungspraktisch spezifisch ausbildet und materialisiert – dabei jedoch immer auch in Medien, Politik, Wissenschaft und alltäglicher Lebenswelt kontrovers verhandelt wird.

Unser Verbund untersucht kritisch, wie der Nexus von Ernährung und Gesundheit moderne Gesellschaften um ein erfolgreiches Selbst herum organisiert und reguliert, moralische Urteile über ‚gute‘ und ‚schlechte‘ Lebensführung nahelegt und gesellschaftliche Positionen von Menschen beeinflusst. Der Projektverbund wird die Verbindungen, die zwischen Fettleibigkeit, Gesundheit, Selbstverantwortung und Gesellschaftskrise hergestellt werden, historisch, soziologisch und gesundheitswissenschaftlich verorten, empirisch untersuchen und so die Evidenz von Gesundheit als Norm problematisieren. Methodisch schließt das Projekt an die Soziologie und Geschichte des Körpers, die critical ability studies und die Gouvernementalitätsstudien an. Dabei kommen unterschiedliche theoretische wie methodische Instrumente zur Anwendung, die zudem aufeinander bezogen und so weiter entwickelt werden: Diskursanalyse, Praxeologie (ANT), Literaturreview, quantitative Repräsentativbefragungen, Medien- und Bildanalyse usw.

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Kernthesen des Verbundes sind:

  • Ernährung und Gesundheit bilden einen Schlüssel zur Funktionsweise moderner Gesellschaften. Sie sind auf die Pflege individueller wie kollektiver Leistungsfähigkeit ausgerichtet und somit auf die Formierung des Sozialen wie des Selbst über ability.
  • Ernährungsdiskurse und -praktiken stellen nicht nur gesunde oder kranke Körper her, sondern gehen mit moralischen Wertungen einher, die den Körper zum Zeichen für den (Miss)Erfolg der Arbeit am Selbst machen, der auch sozial und politisch zu verstehen ist.
  • Nur eine interdisziplinäre Analyse, die gesundheitswissenschaftliche, soziologische, kultur- und geschichtswissenschaftliche Perspektiven ineinander verschränkt, vermag zu zeigen, wie sich Gesundheit als regulierendes Ideal im Zentrum einer modernen Gesellschaftsordnung etabliert hat, die auf Leistungsfähigkeit und ability ausgerichtet ist.
  • Ernährungspraktiken verbinden sich mit weiteren Körperpraktiken, die dazu beitragen sollen, ein gesundes und leistungsfähiges, eben ‚fittes‘ Selbst herzustellen.
  • Vergleichende und transnationale Analysen eröffnen die Möglichkeit, das Verhältnis von Ernährung und Gesundheit sowohl in seinen nationalen und regionalen Spezifika als auch in seinen transnationalen und transregionalen Verschränkungen herauszuarbeiten.
  • Ernährungsempfehlungen werden keineswegs immer beherzigt, sondern kollidieren mit beharrlichen Essensgewohnheiten. Dieser „kulinarische Eigensinn“ (Tanner 2010) und die Vehemenz, mit der eine gesunde Ernährung propagiert wird, bedingen sich oft wechselseitig.
  • In liberalen Gesellschaften erfolgt Arbeit am Selbst überwiegend in Form freiwilliger Einbindung, und nicht notwendig durch Manipulation oder Zwang. Sich gut zu ernähren oder sich zu bewegen kann den Wünschen des Subjekts entsprechen, Spaß machen und zur Selbstermächtigung beitragen – und bleibt trotzdem in regulierende Muster eingebunden.
  • Die Formen gesundheitlicher Regulation, der Grad von Freiwilligkeit und die Referenzen, Bedeutungen und Effekte von Ernährungsdiskursen und -praktiken variieren je nach ‚Rasse‘, Klasse oder Sexualität, Geschlecht oder Alter der Akteur/innen. Ernährung hat Teil an der Gestaltung sozialer Ungleichheit, ermöglicht aber auch widerständige Praktiken und Konflikte.
  • Einstellungen der Bevölkerung zu Ernährungsweisen und Körperformen sind (auch) durch die Gesundheitswissenschaften geprägt und sind zugleich Gegenstände normativer Urteile.
  • Diese Einstellungen variieren nicht nur in Abhängigkeit von sozialen Faktoren, sondern auch zwischen den Ländern und Gesellschaftssystemen.